Von der Mitternachtsmission wurden im Jahr 2013 allein 197 Opfer von Menschenhandel betreut, hinzu kommen noch die 129 Kinder der betroffenen Frauen. „Etliche Minderjährige befinden sind darunter“, informiert Leiterin Andrea Hitzke, „wobei das Durchschnittsalter der betreuten Frauen zwischen 20 und 30 Jahren liegt“.
Projekt „Identifizierung und Schutz von Opfern von Menschenhandel auf dem Asylweg“
Nur ein Teil der Gesamtarbeit der Mitternachtsmission, dessen Mitarbeiterinnen im Jahresverlauf fast 800 Frauen betreuen. Aus Anlass des „Europäischen Tag gegen Menschenhandel“ am kommenden Samstag stellte die Mitternachtsmission das Projekt „Identifizierung und Schutz von Opfern von Menschenhandel auf dem Asylweg“ vor.
Im Rahmen des Projektes werden Frauen auf ihrem Asylweg begleitet und sicher untergebracht. Die Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bezeichneten die Mitarbeiterinnen der Mitternachtsmission als „sehr gut“.
Seit dem 1. April wird das Projekt umgesetzt, vernetzt mit den Beratungsstellen Nadeschda in Herford und der Zuwanderungsberatung der Diakonie Mark-Ruhr in Hagen. Es ist zunächst bis zum 31. März 2015 befristet; Bemühungen um eine Verlängerung laufen.
Frauen kommen vor allem aus afrikanischen Ländern und Osteuropa
Die Frauen kommen überwiegend aus afrikanischen Ländern wie zum Beispiel Nigeria, aber auch aus Serbien, dem Kosovo und Tschetschenien. Sie finden den Weg über Italien, Spanien, Griechenland, wo sie Opfer von Menschenhandel wurden, zur Mitternachtsmission. Am Bahnhof in Dortmund wird den Frauen Telefonnummer oder Adresse genannt und stehen dann vor der Tür.
„Viele der Frauen sind hoch schwanger, haben teilweise eine Nacht auf der Straße oder am Bahnhof geschlagen, sind unzureichend gekleidet, haben Hunger“, weiß Heike Müller, stellvertretende Leiterin der Mitternachtsmission und Leiterin des Arbeitsbereichs „Hilfen für Opfer von Menschenhandel“.
Illegal eingeschleust und Opfer von Menschenhandel geworden
Frauen, die teilweise illegal nach Deutschland eingeschleust worden sind und die in Deutschland in Wohnungen oder Bordellen festgehalten, eingesperrt und zur Prostitution gezwungen wurden, haben Bedrohungen, Misshandlungen und Vergewaltigungen erlebt. „Erst wenn sie sich ganz sicher fühlen, erzählen sie ihren tatsächlichen Lebensweg“, sagt Heike Müller. Schnell müsse eine medizinische Versorgung eingeleitet werden und eine sichere Unterbringung erfolgen.
Ein besonderes Problem: durch die organisatorischen Strukturen werden die Frauen massiv bedroht, eingeschüchtert und unter Druck gesetzt. „Nur wenige von ihnen“, so erklärten die Mitarbeiterinnen der Mitternachtsmission, „entscheiden sich deshalb zu einer Anzeige gegen ihre Peiniger“.
Seit Projektstart 19 Frauen mit acht Kindern neu aufgenommen
Seit Start des Projektes wurden 19 Frauen mit insgesamt acht Kindern, die Opfer von Menschenhandel sind, neu aufgenommen. Fünf der Frauen waren zum Zeitpunkt schwanger; zusätzliche sieben Frauen wurden an die Projektpartnerinnen vermittelt.
Projektmitarbeiterin ist Regine Reinalda, seit 19 Jahren als Sozialarbeiterin mit einer halben Stelle in der Mitternachtsmission dabei. Zusätzlich wurde durch die Projektförderung Corinna Klimmek als Sozialarbeiterin mit einer weiteren halben Stelle gewonnen.
FALLBEISPIEL: DOKUMENTATION JOYCE
Joyce, 19 Jahre alt, aus einem kleinen Dorf in Nigeria, ist nur ein Fallbeispiel der Dortmunder Mitternachtsmission. Ihr Leidensweg wird geschildert:
„Joyce wird von einer afrikanischen Frau in die Beratungsstelle der Mitternachtsmission gebracht, die ihren Namen nicht nennen will. Aus Angst, Schwierigkeiten mit der Polizei oder Ausländerbehörde zu bekommen. Die Frau ist am Bahnhof von Joyce um Hilfe gebeten worden. Die 19-Jährige wird zunächst von der Helferin aufgenommen, bekommt Essen und Kleidung und darf in der Wohnung übernachten. Joyce ist schwanger. Aus diesem Grund beschließt die Helferin, sie in die Obhut der Mitternachtsmission zu vermitteln, da Joyce nicht krankenversichert ist, so dass sie auch ärztliche Hilfe bekommen kann.
Als Joyce mit ihrer Helferin in die Beratungsstelle kommt, ist sie sehr zurückhaltend und scheu, scheint sehr unter psychischem Druck zu stehen und weint die ganze Zeit. Von der Helferin fahren wird, das Joyce aus Italien geflohen ist, wo sie der Prostitution auf der Straße nachgehen musste. Die Madame, für die sie arbeiten musste, hatte ihr gedroht, das Kind wegzunehmen, damit sie nach der Geburt wieder arbeiten könnte. Dies hat Joyce ihr erzählt. Nachdem die Mitarbeiterin der Mitternachtsmission die Hilfemöglichkeiten erklärt hat, ist Joyce bereit, die Hilfe anzunehmen.
Über ihre Erlebnisse will sie aber nicht sprechen. Sie hat nur drei Monate Zeit zu entscheiden, ob sie eine Anzeige bei der Polizei machen will. Als sich ihre Helferin, die ihre Kontaktdaten nicht geben will, verabschiedet, ist Joyce sehr traurig. Als sie sich Kleidung und Lebensmittel aussuchen darf, entspannt sie sich deutlich, hört auf zu weinen und beginnt, auf Fragen zu antworten und zu sprechen. Joyce hat nichts außer der Kleidung, die sie bei der Flucht getragen hat. Den Pass, mit dem sie in Deutschland eingereist ist, hat ihr die Madame, für die sie arbeiten musste, abgenommen.
Joyce kommt aus einem kleinen Dorf in Nigeria. Dort lebte sie seit ihrer Kindheit bei ihrer Großmutter, da ihre Mutter gestorben war und der Vater eine andere Frau geheiratet hatte, die Joyce nicht bei sich aufnehmen wollte. Joyce und ihre Großmutter lebten in großer Armut: nur von dem Ertrag eines kleinen Feldes, den sie auf dem Markt anboten. Andere Arbeit gab es nicht. Durch eine Nachbarin erfährt Joyce von einer Bekannten, die ihn Europa lebt, die junge Frauen sucht, die für sie arbeiten und so gutes Geld verdienen können. Joyce ist interessiert und nimmt telefonisch Kontakt zu der Frau auf. Diese verspricht, dass Joyce eine Arbeit in einer Fabrik bekommen könnte. Alle notwendigen Formalitäten sollen für Joyce erledigt werden. Sie muss sich nur immer an die Orte begeben die mitgeteilt werden. Joyce erhält einen Pass, der auf einen anderen Namen aber mit ihrem Foto ausgestellt ist. Das bemerkt sie aber erst, als sie den Pass kurz vor der Ausreise erhält. Vorher wird sie angewiesen, eine Voodoo-Priesterin aufzusuchen, die Schamhaare und Blut von ihr nimmt. Sie muss erklären, dass sie nicht über das Ritual spricht und dass sie auf keinen Fall irgendetwas gegen die Madame und ihre Freunde und Bekannten unternimmt. Außerdem gelobt sie, den Anweisungen der Frau zu folgen.
Joyce wird mit anderen Frauen in ein Flugzeug gesetzt. Am Zielort wird sie von der Frau abgeholt, die sie Madame nennen soll. Die Madame bringt Joyce zunächst in ihre Wohnung. Am nächsten Tag wird ihr eröffnet, dass sie als Prostituierte in einem Club arbeiten muss. Sie müsse 60 000 Euro Schulden abzahlen, die durch die Organisation der Reise nach Italien entstanden sind. Joyce ist geschockt und widerspricht. Die Madame schreit sie an und droht ihr, dass die und ihre Großmutter sterben würden, wenn sie sich widersetzen würde. Schließlich habe sie geschworen alles zu tun, was die Madame sage. Joyce hat große Angst und fügt sich zunächst. Sie wird in einen Club gebracht, wo sie als Prostituierte arbeiten muss. Joyce hat vorher noch nie Sex gehabt. Ein anderes Mädchen zeigt ihr was sie tun muss.
Joyce kann die Arbeit als Prostituierte nicht aushalten. Als sich eine günstige Gelegenheit ergibt, flieht sie. Hat aber große Angst, dass die Drohungen der Madame sich erfüllen. Der Vater ihres Kindes hat ihr gesagt, dass er in Dortmund lebt. Sie steigt in einen Zug, der bis Dortmund fährt, wo sie eine afrikanische Frau anspricht und um Hilfe bittet. Sie kommt sie in die Betreuung der Mitternachtsmission.
Zunächst will Joyce von einer Anzeige bei der Polizei nichts wissen. Zu groß ist die Angst. Dann fasst Joyce Vertrauen zu den Mitarbeiterinnen der Mitternachtsmission und entscheidet sich, doch eine Anzeige zu machen, obwohl sie dadurch unter extremen psychischen Druck gerät. Außerdem fürchtet sie, dass die Polizei sie sofort abschieben wird, wenn sie dort hingeht. Es gelingt Joyce zu überzeugen, dass ihr bei der Polizei nichts geschehen wird.
Mittlerweile hat Joyce einen kleinen Jungen geboren. Der Vater war ein Kurde, der öfter zu ihr kam. Joyce weiß aber nur den Vornamen und hat eine Handynummer, die nicht mehr funktioniert. Die Chance, die Täterin zu finden und vor Gericht zu stellen oder die Identität des Vaters festzustellen, ist sehr gering. Muss Joyce zurück nach Nigeria, kehrt sie in die Armut und Perspektivlosigkeit zurück. Ihre Zukunft und die ihres Kindes sind dann sehr ungewiss. Die Täter vor Ort würden sich mit Sicherheit rächen und das geforderte Geld von Joyce abverlangen, da sie wissen wo sie sie finden können. Auch nach Italien kann sie nicht zurück, da sie dort durch die Madame und deren Helfern ausgeliefert wäre.
Eine Möglichkeit ist der Antrag auf Asyl. Wenn sie der Entscheiderin des Bundesamtes glaubwürdig darlegen kann, dass ihr Leben und das ihres Kindes bei Rückkehr nach Nigeria oder Italien in Gefahr ist, hat sie eine gute Chance, in Deutschland in Sicherheit zu bleiben“.
Von Joachim vom Brocke (Nordstadtblogger)
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